Stärken-Tschakka-tschakka vermeiden –
Plädoyer für eine reflektierende Stärkenarbeit
Ich habe in der Regel ein oder zwei Lieblingssongs, die ich in der Dauerschleife höre und von denen ich nicht genug bekommen kann. Aber kennst du das, wenn dein aktuelles Lieblingslied, das du immer und immer wieder hörst, langsam seinen Reiz verliert?
So ähnlich kann es auch mit der Stärkenarbeit sein, wenn undifferenzierte Stärkenarbeit betrieben wird. Wenn immer wieder Schlagworte platziert werden oder Methoden ohne fachlich fundiert Konzepte angeboten werden. Abgesehen davon, dass Ideen, die zu Schlagwörtern reduziert werden, oftmals durch die permanente Benutzung an Glanz und Kraft verlieren, besteht die Gefahr der Vereinfachung und vielleicht auch der Übervereinfachung und damit verbundenen Oberflächlichkeit (vgl. Thompson und Thompson 2023:7).
Das Thema Stärken ist in den letzten Jahren immer populärer geworden und ist mittlerweile fester Bestandteil in vielen Coaching, Selbsthilfe und Resilienz-Ansätzen. Der Spruch: Stärken stärken ist ähnlich wie Denk Positiv überall zu finden. Stärken zu stärken ist im Grundsatz gut. Aber was passiert, wenn Stärken überdosiert zu Schwächen werden? Oder der Kontext, in dem die Stärken vermehrt eingesetzt werden nicht passt? Oder persönliche Charakterstärken, die im Privatleben sinnvoll gestärkt werden können, im professionellen Kontext nicht passen?
Die Fragen machen hoffentlich deutlich, dass es insbesondere in professionellen Kontexten um eine differenzierte und reflexiver Stärkenarbeit gehen sollte – eben kein tschakka tschakka!
Was ist unter reflexiver Stärkenarbeit zu verstehen?
In Anlehnung an Thompson und Thompson (2023) wird unter reflexiver Stärkenarbeit eine Arbeitsweise verstanden, die sowohl analytisch durchdacht als auch achtsam und umsichtig (self-aware) ist.
Unter dieser Prämisse lässt sich feststellen, dass Stärken, nicht unbedingt gestärkt werden müssen. Denn es kommt auf den Kontext an. Teilweise brauchen Stärken auch Grenzen, wenn sie zu viel zum Einsatz kommen und eine Balance fehlt oder wenn sie von anderen als nervend erlebt werden und eine Zusammenarbeit im Team erschweren. Zum Teil stehen wir uns mit unseren Stärken auch selbst im Weg. Beispielsweise recherchiere und lese ich gerne. Neugier und Wissensdurst zählt zu meinen Signaturstärken. Wenn ich diese Stärken so richtig auslebe, fühle ich mich sehr wohl und ich habe viel Energie. Einen Aufsatz kann ich aber so nicht schreiben, da müssen dann auch andere Fähigkeiten, die nicht unbedingt zu meinen Stärken zählen, zum Einsatz kommen.
Oder ein Beispiel aus der Teamarbeit: Die Kollegin, die Humor zu ihren Signatur-Stärken zählt. Sie versucht in allen möglichen Situationen witzig zu sein, ihre Beiträge sind jedoch oftmals unpassend. Humor ist eine wunderbare Stärke, die gezielt eingesetzt schwierige Situationen auflockern kann. Oder in Kennenlernsituationen das Eis brechen kann. Eine Überdosierung der Stärken, kann jedoch bei Besprechungen schnell als unpassend und anstrengend empfunden werden. Auf der Stand-up Comedian-Bühne ist der Kontext dann jedoch absolut passend.
Es geht also nicht per se darum Stärken zu stärken, sondern darum Stärken passend zu dosieren. Sie dem Kontext und den Zielen anzupassen. Wie bei einem Mischpult können wir unsere Stärken „aufdrehen“ also mehr zum Einsatz bringen oder „runterdrehen“ also weniger einsetzen. Zudem lässt sich das Zusammenspiel der Stärken aufeinander abstimmen. Ruch sagt in einem Interview in Rose (2021: 97), dass eine Stärke durch eine andere Stärke reguliert werden kann.
Dafür braucht es eine differenzierte und reflektierte Stärkenarbeit, in der wir immer wieder nachdenken, was die Stärken für uns bedeuten und ihr Zusammenspiel analysieren. Differenziert bedeutet unterschiedliche Stärkenbereiche zu berücksichtigen. Das sind im Stärkenspektrum: Charakterstärken, Fähigkeiten und Bedürfnisse. In der Reflexion wird überlegt, wie die Stärken sinnvoll eingesetzt oder ggf. situationsspezifisch angepasst werden können.
Es geht in der Stärkenarbeit um Selbstakzeptanz und nicht um eine unrealistische Selbstoptimierung. Das heißt, dass wir unsere Schwächen akzeptieren und schauen, wie wir sie mit den Stärken gut kompensieren können.
Also auf eine kurze Formel gebracht:
Stärkenarbeit ist analytisch reflektiert als auch achtsam und umsichtig.
Außerdem sollte berücksichtigt werden, dass Stärkenarbeit ein Prozess ist. Es reicht nicht aus 3-5 Stärken über eine Übung oder einen Test zu ermitteln, sondern die Reflexion, die Auseinandersetzung, was die Stärken für eine Person persönlich deuten und wie sie gut genutzt werden können, sollte in Reflexionsschleifen erfolgen